Klassischer B2B-Verkauf – Teil 1 Das Ende des Außendienstes?
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Es ist der perfekte Sturm. Ohne dass jemand das wirklich gewollt hätte und ohne dass jemand das auch nur hätte ahnen können, ereignet sich im klassischen B2B-Vertrieb gerade eine Disruption wie aus dem Lehrbuch der Volkswirtschaft. So etwas hatte es bislang noch nicht gegeben!

Das Berufsbild des Vertriebsleiters im Außendienst verändert sich, und zwar blitzartig und nicht unwesentlich. Getrieben wird dieser Entwicklungssprung einerseits von der Pandemie und dem daraus resultierenden Druck, persönliche Kontakte zu reduzieren. Andererseits von der Attraktivität möglicher Zeit- und Kostenersparnis, die durch den technischen Fortschritt möglich geworden ist, der uns jetzt eine praxistaugliche Infrastruktur für Videokonferenzen bereitstellt. Diesmal erwischt es nicht die Drucker, nicht die Heizer und nicht Kodak. Diesmal erwischt es den Vertrieb.
Als ich im Sommer 1994 mein erstes eMail-Konto einrichtete, war das ein Experiment. Der Informationsdienst „Compuserve“ stellte damals interessierten Nutzern solche elektronischen Postfächer zur Verfügung und man konnte damit schnell und einfach mit anderen Computer-Verrückten auf der ganzen Welt kommunizieren. Das Mitmachen war im Vergleich zu heute relativ teuer, aber sehr interessant und wir alle waren uns damals sicher: Dem gehört die Zukunft! In spätestens zehn Jahren, so dachten wir, würde ein gewisser Teil der schriftlichen Kommunikation elektronisch verlaufen. Natürlich nichts wirklich wichtiges, keine Urkunden, keine Dokumente, keine Verträge, keine Rechnungen und erst recht keine Zahlungen. Wie sollte das in solch einem unsicheren Medium auch von statten gehen?
Doch keine zehn Jahre, ja nicht einmal zehn Monate später, hatte die Entwicklung selbst unsere radikalsten Vorstellungen weit überholt: Praktisch über Nacht hatten unsere Kunden, und damit auch wir, auf elektronische Kommunikation umgestellt. Das angebrochene Paket mit unserem geschäftlichen Briefpapier liegt zur Erinnerung noch heute im Archiv. Wir haben aus ihm seit 1995 keine zwanzig Bogen mehr entnommen.
Der große Sprung nach vorn
„Disruptiv“ werden Neuerungen dann genannt, wenn sie bestehende Technologien, Produkte oder Dienstleistungen vollständig aus dem Markt verdrängen und ersetzen. Typisch dabei ist, dass dies nicht „evolutionär“ – also als Entwicklung in überschaubaren Schritten – geschieht, sondern „revolutionär“, also schlagartig. Wenn man am Anfang einer solchen Entwicklung steht, kann man sich das typischerweise überhaupt nicht vorstellen, wie überflüssig etwas qualitativ hoch entwickeltes, nützliches, wo möglich teures und seltenes ganz schnell werden kann.
Ob Druckerpresse oder Dampflok, ob Automobil oder eMail – stets zerrissen (englisch: to disrupt) solche Technologien bei ihrer Einführung ganze Berufe, Wirtschaftszweige und Karrieren. Hersteller von Kutscherpeitschen, Hufschmiede und Sattler hatten als Berufe keine Chance mehr als das Automobil aufkam. Solche Unternehmen konnten noch so viel investiert haben, sie konnten einen USP besitzen wie kein anderes, sie konnten die weltbesten Fachleute beschäftigen und als Marktführer qualitativ einzigartige Produkte herstellen – genutzt hätte es ihnen nichts. Ihr Beruf hatte seine Existenzberechtigung verloren, ihr einst so kostbares Wissen und Können war schlagartig nichts mehr wert. Das nennt man Disruption. Es ist eine bestimmte Form von Katastrophe.
Da diese technologiegetriebenen Umwälzungen in der Vergangenheit quasi automatisch auch neue Berufe, neue Produkte und neue Dienstleistungen hervorbrachten, wurden solche Disruptionen unter dem Begriff der „kreativen Zerstörung“ beschrieben. Durch den Zusammenbruch wird echte Neuerung möglich. Unternehmer, Inhaber und Führungskräfte, für die „das Bessere der Feind des Guten“ ist, legen hier die Betonung auf die Kreativität. Selbst davon Betroffene erleben in erster Linie die Zerstörung. Wer braucht noch so viele Mitarbeiter im Außendienst, wenn alle wesentlichen Aufgaben in Live-Online-Sessions ebenso gut erledigt werden können und wenn Vertriebsmitarbeiter jetzt vier, fünf oder zehn Gespräche pro Tag mit Kunden führen anstatt zwei?
Bedeutung von Besuchen auf Sach- und Beziehungsebene
Ein direkter und persönlicher Kontakt galt im B2B-Vertriebsprozess stets als wesentliches Element, ja geradezu als „heilige Kuh“. Dahinter stehen aber im wesentlichen „nur“ psychologische – keine praktischen – Gründe. Kunden wissen, wie teuer so ein Außendienst ist und erleben es daher als besondere Wertschätzung, wenn sie persönlich besucht werden. Dadurch entsteht eine kleine psychologische Verpflichtung, dass die Fahrt und der Aufwand sich auch irgendwie lohnen sollte für den Vertrieb, sonst hätte man als Einkäufer fairer Weise ja gar keinen Termin vereinbaren dürfen.
Dieser spieltheoretische Faktor wird durch die Pandemie komplett aufgehoben. Dass die Außendienstler nicht mehr kommen, sondern Live-Online-Termine vereinbaren, ist nicht mehr das Ergebnis einer unternehmerischen Entscheidung, sondern das Gebot der Stunde für Alle, und damit hat es eine andere Bedeutung bekommen: Es steht für Umsicht.
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Klar ist, dass bestimmte Formen des Konfliktmanagements und der emotionalen Steuerung einer persönlichen Begegnung bedürfen. Störungen bleiben in längeren Kunden-Lieferanten-Beziehungen, wie sie im B2B-Geschäft üblich sind, nicht aus und da muss der sprichwörtliche „Gang nach Canossa“ eben manchmal in Szene gesetzt werden, um zum Beispiel Abbitte zu leisten. Da wird auch künftig das offene Wort hinter verschlossenen Türen durch nichts ersetzt werden können. Solche Klärungen funktionieren immer am besten, wenn der ganze Mensch mit seiner emotionalen Wucht zum Vorschein kommt, denn hier soll eine emotionale Veränderung, ein Ausgleich, eine Lösung im System gefunden werden.
Für all das, was man im typischen B2B-Außendienst aber als das „Tagesgeschäft“ bezeichnet, hat sich in dieser Pandemie möglicherweise etwas in aller Deutlichkeit gezeigt, was Vertriebsleiter möglicherweise schon ahnten: Es ginge auch gut mit weniger Aufwand!
Besuche als Akte der Wertschätzung: Die symbolische Ebene
Nur der direkte und persönliche Kontakt in einer unmittelbaren Face-To-Face-Kommunikation zeige dem Kunden auch die notwendige Wertschätzung, war stets zu hören, wenn es um die Legitimität der meist kostspieligen Außendienste ging. Doch eine solche, eher symbolische Bedeutung zieht jedes Verhalten aus seinem Kontext, und der hat sich gerade geändert. Und zwar grundlegend. Die dadurch provozierten Lernerfahrungen werden sich nicht mehr rückgängig machen lassen. Die so erlangten Einsichten haben Bestand, auch wenn heutige Vertriebsleiter dadurch vielleicht in eine kognitive Dissonanz geraten, die sich darin zeigt, dass sie früher selbst vielleicht viele Jahre im Außendienst zugebracht haben und diesen Teil ihres Berufslebens ja nur schwer im Nachhinein für praktisch nutzlos erklären können.
Aber selbstverständlich müssen wir den Aspekt der Wertschätzung im Auge behalten, der auch in die Gestaltung einer Live-Online-Begegnung einfließen muss, soll diese zum verkäuferischen Erfolg führen. Betrachten wir die typischen Aufgaben des Außendienstes im Kontakt mit seinen Kunden und Interessenten, dann zeigt sich diese Wertschätzung an allen Kontaktpunkten auch durch die Form der Kommunikation: Das Medium ist die Botschaft! Nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Verpackung kommt es an, heißt das. Nicht nur was gesagt wird, sondern auch das „Wie“ spielt eine Rolle.
Diese quasi symbolische Wirkung bezieht die „Verpackung“ bei der Kommunikation aus dem kulturellen Kontext, in dem sie steht. Ein weißes Geschenkpapier wäre in China keine gute Idee, denn weiß ist dort die Farbe der Trauer. Die Gefühle, die wir haben, werden durch unsere Vorerfahrungen, unsere Geschichte und unsere Kultur bestimmt. Nichts hat „an sich“ irgendeine Bedeutung.
Die Empfindungen, die Sie und Ihre Gäste angesichts der Gestaltungs- oder Verpackungselemente in einer Live-Online-Begegnung haben, sind durch unsere Vorerfahrungen mit Kino, TV, YouTube und ähnlichen Medien geprägt. Sie haben unsere Sehgewohnheiten erschaffen, uns die „Brille aufgesetzt“, durch die wir nun auf die Szenerien in unserer Zoom-Galerie blicken. (Vorvergangene Woche erschien zum Beispiel eine Führungskraft in einem Managementworkshop, den ich leitete, mit einer Übertragung aus der Kellerbar. Dort hatte sich die Person offenbar ein vorläufiges Arbeitseck eingerichtet und präsentierte nun Quartalszahlen vor den gesammelten Spirituosen im Hintergrund ...)
Lesen Sie im 2. Teil am 26. April:
Welche psychologischen Effekte hat ein persönlicher Besuch wirklich? Lohnt sich der Aufwand? Wie sieht die Zukunft des Außendienstes dann aus?
*Martin Heß ist Inhaber der S.T.E.P. - Training & Coaching GbR und hat 30 Jahre Erfahrung als Verkaufs- und Verhandlungstrainer sowie als Klärungshelfer und Schlichter bei Konflikten.
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